„KI kann eine noch größere Chance darstellen als der Internet-Boom in den 90ern“

Thomas Neubert lebt seit 30 Jahren im Silicon Valley. Bei Intel in Santa Clara ist er für den Übergang zu neuen Technologien in Zusammenarbeit mit externen Start-ups zuständig. Er ist Mitbegründer und amtierender Vorsitzender der German American Business Association, die 2003 in Kalifornien gegründet wurde. Ein Gespräch über den KI-„Megashift“ und seine Bedeutung für das Business-Ökosystem in Deutschland.

BigData-Insider: Herr Neubert, auf Ihrem LinkedIn-Profil werden Sie als „Evangelist für Transatlantic AI eXchange“ bezeichnet. Ist Künstliche Intelligenz (KI) eine Art Religion für Sie?

Neubert: (lacht) Nein, das ist sie nicht. Es ist witzig. Meine Frau hat mich genau das Gleiche gefragt, als ich meine Visitenkarte drucken ließ. Intel hat 16 vertikale Anwendungsbereiche skizziert, in denen KI Verbesserungen bringen und viele Prozesse effizienter, billiger, schneller und präziser machen wird. Sie wird sich auf die eine oder andere Weise auf fast jeden einzelnen Aspekt unseres Lebens auswirken. Meiner Meinung nach geht es bei der KI also eher um horizontale Skalierung. Deshalb ist dies eine ebenso große oder sogar noch größere Chance, als es das Internet Ende der 90er-Jahre war. Die Entwicklung selbst mag nicht so drastisch sein, aber sie wird die Welt verändern.

Kate Crawford, Autorin von „Atlas of AI“, sagt, Künstliche Intelligenz sei „weder künstlich noch intelligent.“ Sie wird aus natürlichen Materialien geschaffen und Menschen führen die Aufgaben aus, die KI autonom erscheinen lassen, so die Microsoft-Forscherin.

Neubert: Ich würde dieser Aussage nur teilweise zustimmen. Künstliche Intelligenz braucht ein Front-End-Tool oder eine Reihe von Daten, die Menschen gesammelt haben, sie braucht also menschlichen Input. Das ist richtig. Aber es muss klar sein, dass Deep Learning und Künstliche Intelligenz Unterkategorien des maschinellen Lernens sind, nicht umgekehrt. Für mich besteht die Einzigartigkeit der KI darin, dass Daten in die Maschine zurückgeleitet werden können und sie aus ihren Fehlern lernt, um besser, schneller und genauer zu werden. Mit anderen Worten: Sie kann sich selbst korrigieren.

Eine relativ homogene Gruppe von Fachleuten in einer wohlhabenden Branche ist derzeit für große technologische Durchbrüche in der KI verantwortlich. Das mag provokant klingen, aber haben wir es hier nicht mit einer Art Elfenbeinturmdenken zu tun?

Neubert: Stellen Sie sich die berühmte Glockenkurve der Entwicklung vor. Bei der Künstlichen Intelligenz befinden wir uns noch in der „Early-Adopter“-Phase. Die USA haben die Führung ergriffen, weil ihre visionären IT-Konzerne Deep-Tech-Firmen aufgekauft haben. China geht sehr aggressiv vor und tut auch viel mehr als alle anderen. Die Kluft besteht also zwischen diesen beiden großen Ländern mit ihren riesigen, führenden High-Tech-Unternehmen und dem Rest der Welt. Die für die Entwicklung von KI-Anwendungen erforderlichen Tools sind immer noch sehr umständlich. Um sie zu benutzen, ist ein gewisses Maß an Ausbildung erforderlich. Im Moment geht es also darum, wer die besten Grundlagen für KI auf globaler Ebene entwickelt. In dieser Hinsicht arbeiten alle Länder auf die eine oder andere Weise daran.

In Deutschland entstehen derzeit viele KI-Campus. Sind diese Entwicklungen vergleichbar mit dem, was wir einst im Valley gesehen haben?

Neubert: Wir haben in Deutschland einige Kernstädte mit etablierten technischen Universitäten: Berlin, Hamburg, München. Ich würde auch Karlsruhe, Aachen und Tübingen erwähnen, die ebenfalls auf den Zug der KI-Entwicklung aufspringen. In Saarbrücken gibt es das Deutsche Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). Diese KI-Campus entwickeln sich nun in Zusammenarbeit mit diesen Universitäten und Einrichtungen. Sie könnten sogar noch einen Schritt weiter gehen und private Investitionen annehmen. So wie es im Silicon Valley geschieht. Wachstumsbeschleunigungs- und Inkubatorprogramme müssen sehr früh ansetzen, damit es eine direkte Verbindung zu den Lehrplänen der Universitäten gibt und die Studierenden direkt an den Start-ups beteiligt sind. Das ist in Deutschland noch nicht so üblich. Das ist eine kulturelle Sache, ein strukturelles Phänomen. Es bricht gerade aus und das ist ein positives Zeichen. Hand in Hand mit diesen Forschungszentren muss die Industrie gehen: Hersteller von Autos und medizinischen Geräten, Anbieter von Biotechnologien für das Gesundheitswesen. Sie werden eng mit diesen Zentren zusammenarbeiten müssen, um die nächste Generation von KI-Produkten zu entwickeln. Es geht darum, Prototypen für Anwendungsfälle zu schaffen, die die Industrie dann übernehmen, anpassen und auf den Markt bringen wird.

Vor einem Jahr haben Sie die Transatlantic AI eXchange Platform ins Leben gerufen. Wie kann sie zu diesen Entwicklungen beitragen?

Neubert: Es handelt sich im Moment um einen Online-Raum für Webinare und Workshops. Sie bringt Multiplikatoren aus Industrie, Forschung und Regierung zusammen. Ziel ist es, Trends und „Moonshot“-KI-Anwendungsfälle vorzustellen. Bis Dezember 2021 haben wir acht Veranstaltungen durchgeführt. Für 2022 sind zwölf weitere geplant. Wir wollen den transatlantischen KI-Austausch vorantreiben. Gleichzeitig hoffen wir, von den Europäern zu lernen, wie die USA ihre KI-Bemühungen besser auf die spezifischen Bedürfnisse der EU ausrichten können.

Ist das deutsche Business-Ökosystem bereit für den Vormarsch der KI?

Neubert: Ich denke, Deutschland hat das erkannt: Es muss wettbewerbsfähig bleiben und darf den vierten industriellen Megashift in 20 Jahren nicht verpassen. Ist die Start-up-Szene dafür bereit? Hat die junge Generation die Offenheit für Unternehmertum? Die Antwort ist ein klares „Ja.“ Ob das gesamte Ökosystem bereit wäre? Nein, denn es gibt große Unternehmen. In diesen ist das mittlere Management, die derzeitige Generation von Führungskräften, das Problem. Wir müssen diese beiden Welten zusammenbringen. Wir brauchen mehr Agilität und die richtige Denkweise. Unternehmer müssen die Möglichkeit haben, zu scheitern und es erneut zu versuchen. Das ist das Schöne am Silicon Valley. Große Konzerne in Deutschland haben das Geld und das Potenzial, KI so schnell wie möglich einzusetzen, um ihr bestehendes Geschäftsmodell zu verbessern oder neue Bereiche zu erschließen. Einige von ihnen investieren bereits kräftig in ihre KI-Abteilungen. Sie stellen externe Spezialisten ein, KI-Experten von Universitäten. Der nächste Schritt wird sein, dass sie ihr internes Fachwissen aufbauen und dann selbst zur treibenden Kraft werden.

Welche Auswirkungen werden die Europäische Datenschutzverordnung und die Regelungen zur Datensichtbarkeit auf die Branche haben?

Neubert: Lassen wir die Bundesregierung in Berlin und Brüssel die Regulierungsarbeit machen, denn das wird noch lange dauern. Inzwischen kann Deutschland bei der Entwicklung der Technologien aufholen. Wenn amerikanische oder chinesische Unternehmen ihre auf ihren KI-Algorithmen basierenden Dienstleistungen in Europa verkaufen wollen, müssen sie die europäischen Vorschriften einhalten und die gleichen Standards anerkennen und etablieren, um ihre Produkte auch weiterhin europäischen Kunden anbieten zu können. Ich bin absolut dafür. KI-Technologien sind zu sensibel. Sie können zu viele Leben beeinflussen, indem falsche Entscheidungen getroffen werden. Wir müssen einen Schritt zurücktreten, über die Gefahr sprechen, sie angehen und dann weitermachen. Wir brauchen auch Transparenz bei KI-Modellen und -Grafiken, damit die Leute wirklich verstehen, was in KI-Algorithmen vor sich geht. Warum werden bestimmte Entscheidungen getroffen? Denn wenn wir das nicht wissen, kann das sehr negative Auswirkungen haben.

Könnte es sein, dass, wenn Europa die komplexen Vorschriften einführt, die Technologie bereits einen Schritt voraus ist? Dass die Diskrepanz bei den Geschwindigkeiten zu groß sein wird?

Neubert: Ja, das ist in der Tat ein gewisses Risiko. Die Herausforderung besteht in zweierlei Hinsicht. Erstens müssen die europäischen Regulierungsbehörden effektiver, reaktionsschneller und effizienter werden. Das ist einfach eine Tatsache des Lebens. Wenn sie das nicht erkennen, haben wir ein Problem. Die ersten rechtlichen Grundlagen müssen so schnell wie möglich geschaffen werden. Dies ist der Grundrahmen, der sich mit den sensiblen Aspekten der Künstlichen Intelligenz befassen wird. Zweitens muss die Überarbeitung dieser Grundlage mit den neuen Entwicklungszyklen Schritt halten. Dies wird wahrscheinlich eine Dauerschleife sein. Die Innovation ist der Regulierung meist ein bis zwei Schritte voraus, was völlig normal ist.

Haben Sie als Vorsitzender der German American Business Association neue Impulse von der Biden-Administration gespürt?

Neubert: Es ist natürlich ein drastischer Unterschied zur vorherigen Administration. Auch in Berlin haben wir eine neue Regierung. Ich denke, ihre Einstellung zur Künstlichen Intelligenz ist der der Biden-Administration sehr ähnlich. Ich hoffe also, dass es eine sehr synergetische Beziehung sein wird. Auf politischer Ebene stehen wir erst am Anfang der Neudefinition und des Wiederaufbaus dieser vertrauensvollen Beziehung. In praktischer Hinsicht haben beide Länder erkannt, dass sie einander wirklich brauchen. Die USA sind bei der Entwicklung von KI und der Integration von KI in vertikale Anwendungen weit voraus. Deutschland versucht, so gut es geht, aufzuholen. Ich sehe das nicht als echten Wettbewerb. Gleichzeitig haben die USA erkannt, dass Europa wahrscheinlich einer der größten Märkte für den Verkauf ihrer KI-Produkte ist – abgesehen von China mit all seinen Schwierigkeiten. Es besteht also ein gemeinsames Interesse daran, sich gegenseitig zu helfen.

Sie leben seit 30 Jahren im Silicon Valley. Wird es sich wegen der KI-Durchbrüche neu erfinden müssen?

Neubert: Als ich ins Valley kam, gab es hier noch keine Handys und keine Videokonferenzen. Ich habe den Hype um das Internet miterlebt. Dann kam die Schattenseite zum Vorschein, und die Blase platzte. Es war bitter, es war hart, aber wir sind viel stärker daraus hervorgegangen als zuvor. Dann kam die Finanzkrise. Und auch das war schlimm. Das Valley hat sich von einem Halbleiter- und Hardware-Zentrum zu einem Internet- und dann zu einem Software-Standort gewandelt.

Jetzt stehen wir buchstäblich am Anfang der Phase, in der sich alles – nun ja, nicht alles, aber vieles – um Künstliche Intelligenz und deren Implementierung drehen wird. Wird es ähnlich sein wie in den verrückten Zeiten, als das Internet entwickelt wurde? Nein, ganz und gar nicht. Denn alle haben daraus gelernt. Und es ist auch nicht von vornherein etwas völlig Neues, denn KI ist eher eine Steigerung. Außerdem wird es überall auf der Welt ähnliche Entwicklungen geben. Die Technologie wird sich extrem schnell demokratisieren. Die Infrastruktur, Software, öffentliche Cloud-Dienste und erschwingliche Hardware sind bereits da. Die KI-Phase auf globaler Ebene wird also viel schneller kommen und weniger schmerzhaft sein als die Internet-Phase.

Wenn Sie jetzt die Möglichkeit hätten, als Start-up-Gründer eine KI-basierte Anwendung zu entwickeln, welche wäre es dann?

Neubert: Nun, wenn ich schlau wäre, würde ich es Ihnen nicht verraten (lacht). Aber Spaß beiseite, eine zündende Idee habe ich leider noch nicht. Oder ich bin noch nicht auf das richtige Start-up gestoßen. Mein größter Wunsch wäre es, die Welt mithilfe von Künstlicher Intelligenz positiv zu verändern, und zwar im Bereich der digitalen Bildung. Wenn also jemand ein Start-up oder eine Idee im Kopf hat, die mich anspornen könnte …

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